Die romanische Kirche San Romerio gehört zu den eindrücklichsten Sakralbauten des Puschlavs. Hoch über dem Lago di Poschiavo thront sie auf einem Felsvorsprung der gleichnamigen Alp. Historisch bedingt liegt die Kirche zwar auf Bündner Boden, gehört aber zur benachbarten Gemeinde Tirano (I). Anlässlich der Sanierung der Kirche führte der Archäologische Dienst Graubünden 2016 eine erste Untersuchung an der westseitigen Stützmauer durch. Seit 2023 werden die Untersuchungen in jährlichen Etappen, so auch 2025, weitergeführt. Die Kirche besteht aus einem im Grundriss unregelmässig rechteckigen Schiff mit einem eingezogenen, annähernd quadratischen Chor. Dieser trägt als Erbauungsdatum die Inschrift 1659. Die ursprünglich halbrunde, eingezogene Apsis liess sich bei den 2023 durchgeführten Sondierungen im Schiff und Chor nachweisen. Von dieser waren noch Fundamentsteine sowie der Unterbau der ehemaligen Bodenabdeckung der ersten Bauphase in der Apsis und im Chor erhalten. Das Ergebnis von zwei 14C-Analysen eines verkohlten Astholzes aus der Schicht des Unterbaus ergab übereinstimmend den Datierungsbereich 1032–1157 n. Chr. (BE-21730.1.1, 953 ± 17 BP, 1032–1156 AD, cal. 2 sigma; BE-21731.1.1, 941 ± 18 BP, 1037–1157 AD, cal. 2 sigma).
Ganz im Westen des Schiffs führt eine aus dem Felsen gehauene Treppe in die unter dem Schiff liegende Krypta, die in der Kampagne 2024 untersucht wurde. Sie weist einen längsrechteckigen Grundriss auf. Ihre Breite entspricht annähernd derjenigen des Schiffs. Ihre Nord- und Ostwand sowie der Zugang vom Schiff in die Krypta (Nordostecke) sind ganz aus dem Felsen gearbeitet. Nebst den beiden Altären an der Ostwand haben sich noch die Pfeiler eines zweiteiligen Kreuzgewölbes sowie wenige Malereifragmente an der Ostwand erhalten. Die Bauzeit der Krypta ist durch die Dendrodaten der Tragbalken des Krypta-Bodens für das Jahr 1055 oder kurz danach bestimmt (Fälljahr 1055). In der nächsten Kampagne 2025 soll überprüft werden, ob die Krypta, wie vermutet, gleichzeitig mit der Kirche erbaut worden ist. Im Schiff konnten, nachdem der zementhaltige Verputz aus der Renovierungsphase 1951–1953 durch den Architekt Walther Sulser entfernt worden war, über 20 Verputzschichten, zum Teil mit Malereien, dokumentiert werden. Die älteste Malschicht an der Nordwand mit noch 4 fragmentarisch erhaltenen Köpfen einer Figurengruppe ist einem lombardischen Malerkreis zuzuordnen. Stilistische Merkmale verweisen laut der Einschätzung des Kunsthistorikers Marc Antoni Nay (Quinten) auf eine Entstehungszeit zwischen der zweiten Hälfte des 11. Jhs. und der ersten Hälfte des 12. Jhs. hin.
Noch offen sind die Bauzeit und funktionale Bedeutung des kleinen Südannexes. Von diesem könnte einst ein Aussenzugang in die Krypta geführt haben. Der Südannex soll 2025 und die Vorhalle, die noch Reste eines pietra rasa Verputzes trägt, 2026 untersucht werden.